Donnerstag, 21. Mai 2020

Jeder für sich... (Teil 2)

Jeder für sich und alle gegen alle?

Muss ich meine Individualität auf dem Rücken anderer entwickeln? 
Haben meine persönliche Entwicklung und Profilierung automatisch die Abgrenzung zu anderen und damit meine Einsamkeit zur Folge?
Ist eine hingebungsvolle Liebe vereinbar mit meinem Wunsch nach Autonomie und Selbstverwirklichung?
Wie kann ich ganz ich selbst sein, ohne dabei einsam zu werden?


In Asien bedeutet dieses Handzeichen "Ich liebe dich."

Berechtigte Fragen, die sich aber in Zeiten des Egoismus und Konsumismus keiner ernsthaft stellt. Man muss kein 68er sein mit der Parole "Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment", um heute genau so rücksichtslos zu leben. 
Den abgewandelten Trump-Slogan "Me first!" lebt doch heute fast Jede und Jeder. Wenn Liebe zwar dauernd gewünscht wird, aber keiner richtig weiss, was das ist, gleicht man Defizite aus mit Kitsch, Schnulzen, TV-Soaps, Konsum und Fressen. 
Selbstverständlich ist das Übergewicht der Menschen zurück zu führen auf ein Untergewicht an Zuwendung und emotionaler Befriedigung. Aber wenn man nicht darüber nachdenkt, dass Liebe vor allem mit Geben zu tun hat und nicht mit Nehmen, dass Liebe im Duden definiert wird als "tiefes, inniges Gefühl von Zuneigung" (vier wunderbare Worte), dann erkennt man gar nicht nicht, was einem fehlt. Der Dumme ist glücklich. Und der Oberflächliche ist bequem. Und der egoistische will nicht zweimal mit Derselben pennen.


Plakat 1979, Düsseldorf, Luegplatz


All das wird natürlich in unserer digitalisierten Gesellschaft potenziert. In einer Konsumgesellschaft sind „Objektbeziehungen“ oder Singles heute schon der Regelfall. Und die Alten werden von Robotern gepflegt und Kinder haben mit drei Jahren ein Handy, mit dem sie beim Scrollen jede Fantasie und Kreativität abtöten. 

Als ich 1979 sehr persönliche Botschaften auf die weißen Wände sprühte, hatte ich vorher zunehmend Kälte und den Verlust von Menschlichkeit erlebt.
Damit war ich nicht allein. Viele der „anonymen Spayer“ nutzen die von mir weiß abgedeckten Plakate nachts zu einigen Aktivitäten. Das nahm ich ihnen nicht übel, weil es ebenso wie meine Arbeiten menschlichen Charakter hatte. Aber weder ich noch die Anonymen ahnten etwas von dieser schönen, neuen Welt, die uns damals bevorstand.




Damals wurde mir erzählt, dass Menschen auf der Straße weinten, als sie „Wann warst du das letzte Mal richtig glücklich?“ auf dem Plakat sahen. 
Vierzig Jahre Später habe ich die Arbeiten unter Berücksichtigung des asozialen Gebrauchs der sozialen Netzwerke aktualisiert.  Ob sie heute Jemanden zum Nachdenken bringen oder erschüttern, wage ich zu bezweifeln. 

1979

2019






Das Sein bestimmt das Bewustsein? (Karl Marx)

Damas wurden wir geprägt von einer konsumierenden Umwelt.
Heute werden wir bestimmt von einer digitalen Umwelt, die uns sogar unsere Sinne und unser Sinnlichkeit amputiert: 
  • Wir betrachten großartige Bilder in Kleinformaten, erkennen keine Details oder haben dazu „gar keinen Bock“. 
  • Wir hören die Celli am Anfang des letzten Satzes der 9. Symphonie von Beethoven und den brandenden Chor am Ende über winzige, plärrende Leisesprecher.
  • Wir essen und trinken im Stehen oder Gehen aus Plastikschal und -Bechern und Scollen nebenbei auf dem Smartphone.
  • Wir diskutieren in knappen, gestotterten Sätzen auf Facebook über Artikel, von denn wir nur die Überschriften gelesen haben.
  • Wir gehen mit wechselnden Partnern ins Bett, von denen wir nichts wissen und nichts wissen wollen. Die Herstellung und die Geschichte unserer neuen Schuhe oder eines Kleidungsstücks interessieren uns ja auch nicht.

Wenn wir emotionale Defizite spüren, werden diese natürlich verdrängt. Damit sind wir wieder bei der Vereinsamung und bei der dadurch ausgelösten Frustration. Und Frustration schafft Aggression, und die ist nun wirklich aktuell. Aber das ist ein neues Thema…



Wilailuck Lakkhamphan und Manfred Spies
Donnerstag, 21. Mai 2020


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