Sonntag, 31. Mai 2020

Offener Brief: Willy an Wecker

Lieber Konstantin…dein Willy! (Juni 2020)
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Lieber Konstantin!
Nun hast du jahrelang mit mir gesprochen, aber ich bin nie zu Wort gekommen. Deine klagenden Monologe hast du aufgeschrieben und öffentlich gesungen. Nicht in einem einzigen Akkord habe ich antworten können. Genug ist genug. Jetzt melde ich mich. Ich schreibe dir, weil ich nicht so gut singen kann.

Dein aktuelles Gespräch mit mir lässt du mit einem dramatischen, lauten Akkord beginnen. Ist ja okay, ein bisschen Theatralik ist publikumswirksam und die Journalisten schreiben dann von einem „Energiebündel“ auf der Bühne. Und Leidenschaft, Emotionen, Wildheit hast du ja oft gegen Rationalität gesetzt. Wir wollen uns jetzt nicht streiten, ob „mit dem Herzen Denken“ besser und richtiger ist als „nicht herzlos Denken.“ 
1977 lässt du mich sagen, „Mitlaufen ohne Denken kann nicht gut sein für eine gute Sache…“
Und in Willi IV sagst du selbst, „wäre es jetzt nicht an der Zeit, den Schrecken zum Anlass zu nehmen, mal wirklich nachzudenken?“
Buddha sagt, „Wir sind, was wir denken. Mit unseren Gedanken formen wir die Welt“, und den Satz von Descartes kennst du auch: “Ich denke, also bin ich.“ Bleiben wir dabei.

Du rufst mich immer wieder in deinen Texten als Zeugen auf die Bühne. 
Will ich das? Kann ich das? Du präsentierst mich aktuell in Willy 2020 „Willy, und grad du verstehst das sicher, hast du doch dein Leben riskiert, um Faschisten deine Meinung zu sagen.“ 
Ich soll den Faschismus in Deutschland sehen und „deine Angst“ verstehen,  denn „noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik sind die Grundrechte so umfassend und so radikal eingeschränkt worden.“ Das ist richtig. Aber nun denk einmal nach (s.o.), warum ist das so?. Machen das diese von dir pauschal beschimpften Politikmachos, Führer, Diktatoren, Lügner zusammen mit den anderen Bösewichten, weil sie herrschen oder weil sie helfen wollen? Haben sie das sich selbst ausgedacht oder folgen sie immer den Ratschlägen und Warnungen von Ärzten und Wissenschaftlern, weil es sich um eine weltweite Krankheit handelt, eine Pandemie, wie sie die Politiker, Ärzte und Wissenschaftler bisher noch nie kannten und sich nicht vorstellen konnten? Deshalb sagen sie selbst: Das einzig Genaue, das wir wissen, ist, dass wir nichts Genaues wissen. Und um die Menschen vor dem Virus zu schützen gibt es Maßnahmen. Doch dazu später.

Lieber Freund Kosta, du traust diesen neoliberalen Diktatoren „jederzeit zu, dass sie diesen Zustand der Angst und Einschränkung nur allzu gern behalten wollen. Diesen Zustand eines Staates in dem Demonstrationen verboten sind und Kultur in den tiefsten Schubladen der Bürokratie verschwindet….Für viele Herrschenden ist doch das, was zurzeit passiert, eben auch eine perfekte Übung für den dauerhaften Ausnahmezustand oder den Weg in eine Diktatur.“ 
In deinem Deutschland sind Demonstrationen verboten? Was machen die denn da jede Woche überall?
In deinem Deutschland gibt es keine Kultur, weil sie in den Schubladen der Bürokratie verschwunden ist? Aber du schreibst, komponierst, singst und bist zusammen mit anderen Kreativen massenhaft präsent, nur jetzt nicht so öffentlich wie früher, weil es Verantwortung von allen für alle und Schutzregeln gibt. Das sagst du ja selbst am Anfang von "Willy 2020"..

Konstantin, da gehe ich von deiner Bühne. Deutschland ist nicht faschistisch. Deutschland ist keine Diktatur. Deutschland ist kein Land mit einer wertlosen oder wertelosen Gesellschaft. Deine energiebündelhafte Leidenschaft in Ehren, aber wo bleibt das Nachdenkliche, wo bleibt die Abwägung und die angemessene Wortwahl. Das klingt nach Hass. Gut gemeint ist nicht immer gut geschrieben. Wenn deine Angst und deine Wut die Mütter deiner Ablehnungen sind, knalle ich dir ein paar eigene Texte auf den Tisch. Nein, ich lege sie dir ruhig hin. 
Du hast selbst geschrieben, „ Aber du bist meine Zeuge, Willy, ich hasse die Moral.“ Nein, nein, du willst gar nicht hassen. Denn später hast du sogar einen Nazi umarmt und erklärt, „Anscheinend haben wir eine Kultur, die nur versteht, wenn man Hass mit Hass beantwortet.“ (24.12.2014) Ja bitte! Dann muss dein Text etwas umgeschrieben werden.






Ich weiss, dass du ganz anders denkst und fühlst. Wir haben da, wo ich jetzt bin - weil du mich ja vor über 40 Jahren hast sterben lassen - alle deine Texte gelesen und Lieder gehört. Deswegen herrscht auch bei meinen Freunden Aufregung und Irritation. Martin kann dich noch an ehesten verstehen, Gandhi wackelt mit dem Kopf und warnt und Buddha redet immer vom Loslassen. In einem Punkt sind sich aber alle einig: Wenn du die Menschen beschuldigst, diese „neoliberale Diktatur, der sie jahrzehntelang aufgesessen sind“, völlig übersehen zu haben, hältst du sie alle für blöd. Das hat niemand verdient.

Es gibt einen anderen Satz in deinem aktuellen Gespräch mit mir, den ich dich bitte zu ändern oder zu streichen: 
„Meine persönliche Freiheit möchte ich mir selbst beschneiden und nicht von einem Herrn Söder oder Kurz oder Macron beschneiden lassen, den ich nie in meinem Leben gewählt hätte. Pfeifen wir auf das Patriarchat!“
  1. Das Patriarchat hat mit Corona nichts zu tun. Übrigens ist eine der wichtigsten politischen Figuren in der Welt - Frau Angela Merkel - eine Frau.
  2. Ob du Herrn Söder, Herrn Kurz oder Herrn Macron einmal wählen würdest, interessiert gar nicht und hat mit den Maßnahmen nichts zu tun.
  3. Wenn eine ansteckende, gefährliche, relativ unbekannte Virus-Krankheit ein ganzes Volk bedroht, hat die Regierung eine Verantwortung. Das Verhalten jedem Bürger selbst zu überlassen ist völlig inakzeptabel. Insofern reihst du dich hier leider ein in die Riege narzisstischer und egoistischer Intellektueller, die ihre Selbstverwirklichung über alles andere stellen. Gilt hier dein Satz aus „Genug ist nicht genug“ immer noch oder habe ich ihn falsch verstanden: „Doch mein Ego ist mir heilig und ihr Wohlergehen ist mir sehr egal.“
  4. Was bitte ist mit all den selbstverständlichen Regeln, die wir respektieren müssen, wenn wir nicht allein auf der einsamen Insel sind? In der Familie, in einer Gruppe, in einem Verein, in einem Volk. Willst du Ampeln und Verkehrszeichen abschaffen, Geschwindigkeits-Begrenzungen aufheben, Termine platzen lassen, Schulpflicht den Eltern und Schülern überlassen, die freie Wahl von Arbeitszeiten einführen? 
  5. Wenn deine Ablehnungen von Maßnahmen der Regierungen und der Gesundheitsbehörden wie Kopien dessen aussehen, was wir auf „Hygiene-Demos“ von Ultrarechten, Ultralinken, Verschwörungstheoretikern usw. hören,  kennzeichnt dich das nicht, denn man kann sich den Beifall nicht aussuchen. Aber nachdenklich sollte dich das schon stimmen. 
Es kann sein, dass ich durch mein neues Umfeld verändert worden bin. Kann sein, dass sich auf der Erde viel verändert hat und auch meine Messlatten sich verschoben haben. Kann auch sein, dass du mir nie richtig zugehört hast. 
Auch ich habe geträumt. Martin hatte auch einen Traum. Träume und Utopien sind ganz, ganz ganz wichtig. 
Herbert Marcuse sagte mal auf einer Veranstaltung in Düsseldorf: 
Wenn eine Utopie in einer Gesellschaft nicht verwirklicht werden kann - nicht schlimm für die Utopie, schlimm für die Gesellschaft!“

Damit sind wir bei deinen Visionen von Liebe, Menschlichkeit, Respekt, Gleichheit, Toleranz, und der Abwesenheit von Gier, Ausbeutung, Gewalt, Krieg. 
Mach weiter. Begeistere andere. Aber ich sage dir als dein Freund: 
Es muss von den Menschen kommen, sie müssen schmerzhaft fühlen und dann auch begreifen. Sie müssen es selbst entscheiden und tun. 
Wer in diesem Zusammenhang Texte schreibt, redet und Lieder singt, auf Bühnen steht, Bilder malt, tanzt und musiziert ist eigentlich unwichtig. Wichtig ist, was passiert. Insofern hat Buddha recht: Wenn die eigene Eitelkeit los gelassen wird, gewinnt die Sache.




Die Straßen sind groß genug. Wenn nicht nur wenige, sondern fast alle auf die Straßen gehen, können die von dir so benannten Machthaber und Profitgeier und Ausbeuter nicht alle erschießen. Es wird nicht einfach und nicht bequem und nicht ungefährlich  sein.

„Die Morgenröte einer neuen, besseren Zeit kommt aber nicht, wie das Morgenrot kommt, nach durchschlafener Nacht.“ (Bertolt Brecht)



In Liebe, dein Willy
1.6.2020




(Idee: Manfred Spies)











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