Frühlings Erwachen
Der Frühling hat seine Türen geoffnet, Die Uhren werden auf Sommerzeit gestellt und heute ist wieder ein sonniger Tag. Aber der kluge Rabe sitzt auf dem kahlen Baum in meinem Garten und krächzt. Wieder nur Scheiss-Schatten heute?
Es fing damit an, dass ich morgens beim Spülen ein wertvolles Weinglas zerbrach. Groß war es, wunderbar geformt und hauchdünn. Ein Cabernet Sauvignon aus Californien, Australien oder Südafrika wurde in diesem Kelch zu einem fruchtigen Geschenk. Nun ist es weg und alle anderen Genuss-Gläser sind schon eingepackt.
Den ganzen Vormittag arbeitete ich an der Präsentation aller Gegenstände meiner Dunkelkammer, die eine Fotografin und ihr Freund erwerben wollten. Gottseindank gibt es noch Liebhaber der analogen Fotografie! Den Transport des schweren Vergrößerungsgerätes konnte ich gestern nur mit Hilfe eines Freundes machen. Heute schaffte ich enorme Mengen an Fotopapier und Rollenware, Entwicklungseinrichtungen, Chemikalien, Entwickler- und Fixierschalen von 20x30cm bis 50x60cm, eine Wässerungsanlage und Trockengeräte und vieles mehr in meinen Wohnraum und präsentierte alles auf Tischen, nachdem es vorher entstaubt und gereinigt worden war. Um 15 Uhr sollte das Käuferpaar kommen.
Der Mann kam alleine. Er wollte wenigstens den Termin nicht platzen lassen, aber an Kaufen war nicht mehr zu denken, nachdem er sich von seiner Freundin getrennt hatte.
„ Es war ihr nichts mehr genug. Ich sollte mich ändern. Ich fühlte mich zu sehr unter Druck gesetzt.“
Mein Gott, das alte, traurige Lied ohne Reime! Warum ist das so schwer, was so einfach sein könnte? Warum schleppen die Menschen ihre Werkzeugkästen mit in eine angebliche Liebesbeziehung, um an dem anderen herumhobeln, -hämmern, -sägen, -feilen und -schmirgeln zu wollen, bis er ihrem Wunschbild entspricht. „Ja, ich habe einen tollen Typen kennengelernt. Da stimmt zwar manches noch nicht, aber das kriegen ich noch hin“ habe ich erschreckend oft gehört. Mit Liebe hat das natürlich nichts zu tun, sondern mit Eigenliebe, mit Egoismus.
Als ich 17 war, notierte ich in mein Tagebuch: Auf der Party traf ich Sabine und fragte sie, warum sie so gelöst und glücklich aussehe. „Oh, ich habe endlich jemanden gefunden, der zu mir passt.“. Sie hattte nicht gesagt.“ ich habe endlich jemanden gefunden, zu dem ich passe.“ Das ist das Dilemma! Empathie wird durch Egoismus ersetzt. Scheidungen, Trennungen, Partnertausch und One-Night-Stands werden normal in einer Zeit, die den anderen als Objekt der eigenen Selbstverwirklichung betrachtet.
Aber die Sehnsüchte bleiben und die Schnulzenindustrie boomt.
Schon 1976 sagte mir der damals sehr bekannte Sexualpsychologe Prof. Volkmar Sigusch: „Warum wunderst du dich? Wir leben in einer kapitalistischen Konsumgesellschaft. Das beeinflusst unser gesamtes Sein. Selbstverständlich auch die Emotionen und die Sexualität. Personen werden versachlicht und sind damit nicht mehr eigenständig, sondern veränderbar, wir leben Objektbeziehungen.“
Ich erinnere mich an einen warmen, sonnigen Samstag-Morgen in meiner Atelier-Wohnung. Renate schlief noch. Ich brühte den Kaffee, kochte die Eier und bereitete das Frühstück im Garten an einem sonnigen Platz, stellte für später die Liege mit den blau-weiss gestreiften Polstern auf die Terrasse und weckte meine Freundlin mit einer Tasse Kaffee am Bett. In der Sonne sagte ich ihr: „Nachher kommt mein Hausbesitzer und will sich den Keller ansehen. Es gibt dort eine Ratte. Danach muss ich mal für eine Stunde ins Atelier. Ein Plakatauftrag, der fertig werden muss.“ Am Vormittag stand sie dann plötzlich angezogen und mit ihrer Tasche in der Hand in der Ateliertüre und meinte: “Wenn du kein Interesse an mir hast, kann ich ja nach Hause gehen. Schönen Tag noch.“
Das war kein Einzelfall. Immer wieder haben mir Freundinnen signalisiert, wie sie den Konstantin Wecker-Song „Genug ist nicht genug“ für sich verinnerlicht haben.
Empathie ist wirklich kein Fremdwort für mich! Mit kleinen, versteckten Liebesbriefen habe ich nicht gegeizt, Zärtlichkeiten und kleine oder große, überraschende Geschenke waren immer Teile meine Zuneigung. Aber sie wollten alles, auch meine Zeit. Zur Trennung bekam ich dann Ähnliches zu hören wie heute der potentielle Käufer meiner Fotoeinrichtung: „Ich glaube, ich werde noch Männer finden, die sich mehr um mich kümmern.“ Heute verreisen diese Frauen mit ihren Freundinnen, gehen mit ihren Freundinnen ins Kino und ins Theater und lesen abends alleine im Bett dicke Bücher. Ich könnte hämisch lachen, aber das liegt mir nicht.
Warum schreibe ich das? Weil ich es traurig finde und vielleicht auch, weil ich selbst etwas traurig bin über die Abwesenheit meines Glücks, meiner Frau, bei der alles so ganz anders ist und die jetzt schon nach Thailand zur Beaufsichtigung unseres Hauses gereist ist. Niemals hat Luck genörgelt oder sich beklagt, wenn ich stundenlang allein in meinem Atelier gearbeitet, Bilder sortiert oder geschrieben habe. Sie hat derweil in der Wohnung die deutsche Sprache gelernt , sich mit Thai-Massage beschäftigt oder im Garten gearbeitet. Zwischendurch haben wir uns besucht, uns umarmt oder ein bisschen gequatscht. Wir haben den anderen so gelassen, wie er ist, haben uns mit Respekt voreinander geliebt. Das hält offensichtlich besser. Warum ist das so schwer, was so einfach sein könnte?(s.o.)
Wie viele kluge Köpfe haben dazu schon so vieles, fast alles gesagt. Aber wer liest das, wer kümmert sich darum? Man hält heute wahrscheinlich Aristoteles für einen Tsastiki-Fabrikanten, Immanuel Kant für einen Spieler von Inter Mailand und Erich Fromm für den Sekretär von Kardinal Meisner.
Da der Tag für mich so schattig anfing und es nicht heller wurde, habe ich beschlossen, keine Risiken einzugehen und eine Pause zu machen. Immerhin ist bereits der 114. Umzugskarton gepackt, viele Kleinteile sind auseinander genommen und in Luftpolsterfolie gewickelt, die meisten Möbelstücke zusammengestellt und vermessen und alles in große Pläne auf Millimeterpapier eingetragen. Resultat: Es passt in den Container. Das beruhigt.
Mit Luck habe ich auch heute telefoniert und sie übt nach 15 Jahren Pause das langsame Bewegen eines Toyota-Pickups. Mal sehen, wie es morgen aussieht. Vielleicht scheint ja die Sonne, und ich sehe das blaue Band des Frühlings flattern, selbst wenn es draußen wolkig ist.
Manfred, 26.3.2011