Sonntag, 26. Dezember 2021

2021 viel gelernt!

Ein kluges Jahr geht zu Ende und wir haben viel gelernt.

Der Osterhase brachte uns die Eier, der Klapperstorch die Kinder und der Weihnachtsmann die Geschenke.


Das Jahr wurde GEKRÖNT von Corona, das uns Bill Gates und Donald Trump schenkten, die wegen der Überbevölkerung Angst um ihre Golfplätze haben. 

Die brauchen viel Platz und viel Wasser.


Im Winter kam der Spitzname für die alte englische Königin auf: „Omi crown". Das wurde dann immer falsch geschrieben.


Es gab auch neue Spitznamen für tölpelhaftes Benehmen: „Vollpfosten!“ Ob damit der Vergleich mit einem Verkehrshindernis gemeint war, weiss ich nicht. 

„Aluhut“ verstand ich nicht und habe es erfolglos ausprobiert. Ich hatte keine bekloppten Visionen.


Es wurde viel Fußball gespielt und es gab millionenfach Trainer. Da ging Herr Jogi resignierend nach Hause.


Wissenschaft und Forschung erlebten einen Aufschwung. Millionen von neuen Wirrologen diskutierten in TV- und sozialen Medien.

 

Den Menschen auf der ganzen Welt wurde in den Arm gestochen und das wurde „Impfen“ genannt. War es aber nicht, sonst hätten alle schon tot sein müssen.



Tatsachliche Impfungen konnte man daran erkennen, dass „Nebenwirkungen“ auftraten. Wir lernten 2021, dass es bei Männern zu Libidoverlusten bis hin zur Sterilität kommen kann. Nun ist das bei vielen über 80jährigen kein Hauptthema. Bei den 18-75jährigen hilft oft eine Überdosis Viagra. Eine falsche Info war, dass der Pimmel auf Erbsengröße schrumpfen könnte. Erbsengröße ist übertrieben.


In Thailand kam der Regierungschef bei einer Pressekonferenz von der Bühne und besprühte die Journalisten mit Desinfektionsspray, weil sie blöde Fragen stellten. Das wurde weltweit als "Ausraster" bezeichnet. Fake! Das ist normal in Thailand.




Es wurde viel GEDACHT im Jahr 2021 und es wurde viel kreuz und vor allem quer über den Tod geredet. Aber es kam wie beim Wetter: „Et kütt wie et kütt.  Un af on an kütt nix.“ 


Es wurde auch viel über den Klimawandel geredet. Aber das Klima ist kein Gesprächspartner, man kann nicht mit ihm diskutieren. Wir schauten aus dem Fenster und riefen: „Et kütt“. Während wir vom Kommen redeten, war es schon da.


Zum Glück gab es die AfD. Die erklärte uns: „Im Sommer ist es sowieso immer warm.“


Der Geschlechter-Verkehr ist jetzt auch sprachlich geregelt. In einer gerechten Welt gibt es jetzt auch Weihnachtsfrauen mit Knechtinnen und Nußknackerinnen, Wasserkräninnen und Staudämminnen. Gegendert wird auch der weibliche Busen: links Busen, rechts Busin. Ich streichle lieber links. 

Geschlechtsneutral wäre: „Ich bin scharf auf dein milchspendendes Körperteil.“


Es wurde auch gewählt. Aus dem Grab rief Kurt Tucholsky zu uns herüber: „Wenn Wahlen etwas ändern würden, wären sie verboten.“


Liebesbriefe sind absolut out. Wenn wir unsere Gefühle zeigen wollen sagen wir nicht mehr lieben, sondern liken.




Auch ich habe etwas Wichtiges gelernt:




Manfred Spies, 28.12.2021

Sonntag, 19. Dezember 2021

Sonnenaufgang am Abend

                                                         1 

Der alte Mann saß vornüber gebeugt auf der Bank im Park. Die weissen Haare fielen ihm in die Stirn, im Schoß die Hände zusammengepresst mit weissen Knöcheln. Es war ein warmer Spätsommerabend und er hatte Angst vor Herbst und Winter.

„Julian, kommst du rein zum Dinner?“ fragte eine Frau in geblümtem Kleid, die einen Rollator vor sich her schob.



Julian Weissmann hatte als Autor internationalen Erfolg mit seinen Romanen, Erzählungen und Gedichten. Als deutscher Jude hatte er selbstverständlich immer ein waches Auge auf die rassistischen Tendenzen gehabt, die er in großen Teilen der europäischen Bevölkerung vermutete, und die keineswegs nur antisemitisch waren. 

„Aber die Leute nehmen uns übel, wenn wir intelligent und fleißig sind. Als durchschnittlich Erfolgreiche regen wir sie nicht auf. Aber wehe, wir sind erfolgreiche Importeure, Verleger oder Künstler. Ganz schlimm sind jüdische Banker!“ 


Das Anderssein als Gefahr war sein Hauptthema. Die Folge seiner Gedanken und Äußerungen waren auch Häme und Hass bis hin zu Morddrohungen. Und der Neid war bei Kollegen und Teilen der Kritiker unübersehbar, wenn es nach einer Veröffentlichung Lob und Preise regnete. Fast still wurde es um ihn, als sein Aphorismus die Runde machte, „Kritiker sind die Eunuchen der Kunst: Sie wissen, wie man es macht, aber sie können es nicht.“ 


Seine Frau war eine der bekanntesten, deutschen, Filmschauspielerinnen und folgte einem Ruf nach Hollywood. Die Jahre in Amerika waren auch für Julian beglückend, weil er diese Herzlichkeit und Offenheit auch unter Kolleginnen und Kollegen so nicht kannte. Auf den vielen Partys lernte er immer wieder neue Maler, Literaten, Designer, Sportler und Politiker kennen. 

Natürlich gab sehr unterschiedliche Meinungen, aber bei Streitgesprächen überwog nie der Streit. Nachdem er sich schon in Europa für die Ideen des Buddhismus interessiert hatte, lernte er auf einem Friedenskongress den Dalai Lama kennen und war von der Ausstrahlung dieses Weisen und von der Genialität und Klugheit dieser gottlosen Religion begeistert, die er nicht als Religion verstand.


Als auf einem Flug von Sacramento nach Salem in Oregon das Flugzeug abstürzte und seine Frau zusammen mit 156 anderen ums Leben kam, war für Julian alles zu Ende. Zurück in Deutschland wollte er nur englisch sprechen, eckte überall an, seine Sprache wurde dürftig und seine Kolumnen in Zeitungen so provokant, dass er keine Spalten mehr bekam. Julian bekam Depressionen und verlies Deutschland. Er wanderte aus nach Thailand, wo er ein lächelnd zufriedenes, buddhistisches Volk vermutete. Später sagte er einmal: „Ich kam vom Regen in den Monsun.“


In Bangkok traf Julian eine Engländerin, die in London, Paris, Berlin und Heidelberg, Philosophie, Psychologie und Soziologie studiert hatte und an der Silpakorn-Universität „kreatives Denken“ unterrichtete. Sie war der Meinung, dass Kreativität die Kritikfähigkeit bedingt und die Kritikfähigkeit für allen Fortschritt die Voraussetzung ist. Diese Frau war mitfühlend und redete mit Julian wie eine Therapeutin, ohne eine Therapie zu kennen.

 

„Was blockiert dich?“ fragte sie Julian. 

„Mich blockiert nichts. Ich weiss nur, dass ich nicht will. Ich habe keine Lust zu essen, keine Lust zu reden, keine Lust zu schreiben, keine Lust zu schlafen - keine Lust zu leben. Das ist alles. Ist das so schlimm?“

„Nein, das ist nicht schlimm, wenn du es nicht als schlimm empfindest.“

„Ich empfinde nur als schlimm und unangenehm, dass mich alle Welt ändern will. Ich werde von allen eingeladen und wie ein Exot behandelt, den man füttern, aufmuntern und ihm die Schönheit der Welt zeigen muss. Das ist Quatsch. Ich kenne alles, Ich habe alles gesehen. Mein Kopf ist voll. Meine Bücher sind in 14 Sprachen übersetzt und ich bin zufrieden. Ich brauche nichts mehr und ich will nichts mehr brauchen. Ich habe mir einen Rollstuhl gekauft und einen Sturz vorgetäuscht, damit ich nicht eingeladen werde und man mich in Ruhe lässt. Ich bin jetzt 78 und alle halten mich für 15 Jahre jünger. Das ist peinlich.“

„Einstein hat gesagt, „Das Universum ist begrenzt, die Fantasie ist unbegrenzt. Ist sie bei dir begrenzt? Hast du keine Ideen mehr?“

„Du verstehst mich nicht. Es ist genug. Ich will keine Ideen mehr haben. Vor allem keine Ideen, für die sich in der heutigen Zeit keine Sau interessiert!“

„Was wirst du tun?“

„Ein guter Freund hat schon vor Jahren eine kleine Geschichte geschrieben mit dem Titel „Sunset“. Die hat mich sehr berührt und begeistert, obwohl sie vom Freitod handelt. Seit fast 40 Jahren kenne ich das Buch von Jean Amery. Aber ich werde nicht Hand an mich legen. Ich suche ein Hospiz.“


In einem kleinen Ort an der Andamanensee fand Julian, was er suchte. Die große Villa lag in einem noch größeren Park und gehörte zum Besitz eines Klosters. Das weiße Wat stand auf einem Hügel abseits des Parks. Der Abt der steinreichen Mönchsgemeinde hatte an den Gebäuden auf jedes Gold verzichtet. Nur vor der Treppe hinauf zum Hügel stand golden in der Sonne blinkend ein riesiger wandernder Buddha mit Gepäck auf der Schulter und einem Stab in der Hand. Daneben  parkte der Abt seinen Range Rover und den Jaguar E Type.

Das Hospiz hatte sich spezialisiert nicht nur auf sterbenskranke Patienten, sondern auch auf depressive, erlebnismüde, überdrüssige Wohlhabende.


Vertraglich wurden vereinbart eine beträchtliche, festgelegte Einstandsumme und Tagessätze. Garantiert wurde ein zu einem unbekannten Zeitpunkt auf unbekannte Weise erfolgtes Sterben auf absolut schmerzlose und angenehme Weise. Also befand sich Julian quasi in einem Sterne-Quartier mit unbestimmtem Ausgang. Die dort Wohnenden hatten einen 100prozentigen Strebewillen garantiert.

Er bewohnte mit 35 anderen ein Hotel mit Klinik, Therapeutinnen, Schwimmbad und Fitnessraum, täglichen Zeitungen und einer DVD-Sammlung von fast 3000 Filmen und Dokumentationen, die ein Verblichener hinterlassen hatte. Julian bekam in der zweiten Etage ein großes Apartment mit einem Balkon mit Blick auf den Indischen Ozean.


Missmutig schlurfte Julian hinter der Dame mit dem Rollator her. 

Im Speisesaal saßen die Bewohner zu zweit oder mehr Personen an den Tischen. Julian hatte einen Tisch für sich allein an einem der Fenster. Nachdem er sich ein Glas Shiraz bestellt hatte, kam der Direktor zu ihm und fragte fast flüsternd: „Herr Weissmann, die Tische sind alle besetzt. Wir haben einen Neuzugang. Darf ich die Dame Ihnen zugesellen?“

„Wenn sie wenig und leise spricht, ja.“


Alle blickten auf, als der Direktor eine schlanke Frau in einem langen, gelben Kleid mit blauem Kragen und einem an den Enden wehenden blauen Seidenschal zu Julian an den Tisch führte. Sie war etwa 45 Jahre alt, die vollen Lippen waren dezent geschminkt und das lange, pechschwarze Haar betonte den hellbraunen Teint ihres exotisch wirkenden Gesichts. Julian stand auf, verbeugte sich und begrüßte die Frau. Sie nahmen beide Platz und der Direktor frage sie, was sie zu Trinken wünsche. „Einen trockenen Weißen. Einen kühlen, nicht zu kalten Chardonnay, bitte.“

Als der Wein kam, nahm sie einen kleinen Schluck, drehte in Gedanken das Glas auf dem Tischtuch, betrachtete lächelnd den Mann und sagte: „Mein Name ist Aischa. Das ist zwar der Name von Mohammeds Lieblingsfrau, aber ich bin keine Muslima. Ich begnüge mich nicht mit Wasser und Tee.“

„Julian Weissmann.“ 

Lange Pause. Julian bestellte einen Salat des Hauses, Aischa Tagliatelle Salmone. 

Das Essen kam. Schweigen, Mund abwischen, Aischa prostete Julian lächelnd zu.

„Sie haben schöne Augen, erzählen Sie etwas von sich.“

Julian lächelte spöttisch und erwidert: „Sie haben einen schönen Mund. Bewegen sie ihn und erzählen Sie etwas von sich, “

Sie hob ihr Glas. „Nun denn.“

Sie tranken beide und er sagte, „Ich bin ein guter Zuhörer.“


„Das habe ich gern. Ich bin Malerin und vermisse oft nicht nur das Zuhören, sondern auch das Hinsehen. Den Menschen scheinen im Zeitalter der kleinen Handy-Monitore und Ohrstöpsel die Wahrnehmungsorgane abhanden zu kommen.“

„Das kann ich schwer beurteilen. Ich war Platzanweiser in einem Pornokino.“

Aischa hätte sich beinahe verschluckt und setzte prustend das Glas ab. „Sie haben aber vergleichsweise für so einen Ort hier einen wilden Humor.“


Der Abend wurde wunderbar. Zum ersten Mal redete Julian wie ein Wasserfall und das Zuhören war eher auf Aischas Seite. Sie und Julian entdeckten Gemeinsamkeit im Empfinden, beim Austausch erlebter Freuden und Enttäuschungen. Sie waren schnell beim Du und nach einigen Gläsern Wein spät am Abend die letzten Gäste im Speisesaal. Aischa versprach, am nächsten Tag mehr zu reden und von sich zu erzählen.



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Mit Rücksicht auf die Hospiz-Gäste begannen die Mönche ihre Gesänge nicht um 5 Uhr, sondern erst drei Stunden später. Aber die Lautsprecher waren eingeschaltet. 

Nach dem Frühstück saßen Aischa und Julian auf der grünen Bank zwischen den beiden silbern glänzenden Bismarck-Palmen, deren riesige Blätter bis Mittag Schatten spendeten.


Aischa ist die Tochter einer Gynäkologin aus Malaysia und eines deutschen Architekten. 

Sie erzählte von ihren Erfolgen bei wenigen Galeristen und Sammlern und von dem Gegenwind im Kunstmarkt. Ihre fotorealistischen Gemälde, auf denen sie zum Beispiel Politiker beim Mahl abbildete, die Geldbündel auf ihren Tellern hatten, hingen in vielen Museen, wurden aber vom Großteil der Kritiker als Politkitsch, Agitprop oder sozialistischer Realismus abgetan. Sie wurde ein „politischer Magritte“ genannt und von vielen anderen als Manieristin abgelehnt.


„Als Schülerin von Konrad Klapheck an der Düsseldorfer Kunstakademie hatte ich mit sozialistischen Realismus nun wirklich nichts an der Mütze. Sich politisch einzumischen war damals guter Ton. Aber man setzte sich auch gern von anderen ab. Jeder war eifersüchtig auf die Aufmerksamkeit der Anderen. Ich war eine zeitlang mit Jörg Immendorff befreundet. Um in der Wahrnehmung aufzufallen, ging er nicht in die allgemein bejahte DKP, sondern in die KPDML bzw. arbeitete in der maoistischen KPD/AO und verteilte Mao-Bibeln. Ausgerechnet Mao! Der war für die Kulturrevolution in China verantwortlich, in deren Folge unzählige Intellektuelle und politische Gegner von den Roten Garden ermordet und Kulturschätze vernichtet wurden. Mao soll insgesamt für bis zu 40–80 Millionen Tote verantwortlich sein. Als Jörg später an den Tafeln der Bourgeoisie speiste und sich bei Gloria von Thurn und Taxis einladen lies, war ich schon lange von ihm weg. Ich durchschaute die Lügen und die Widersprüche. 

Einmal veranstaltete der durch seine tollen Plakate bekannt gewordene Klaus Staeck in Heidelberg in der Uni einen Polit-Kunst-Kongress. Jörg war gar nicht eingeladen. Er verabscheute auch solche Veranstaltungen, auf denen nicht er der Matador war. Aber er kam mit sinem Clan und klebte alle Glastüren der Uni voll mit seinen Pamphleten. Er benutzte Wasserglas und es ging nie mehr ab. Alle Türen mussten ersetzt werden. Die Politszene grinste, Staeck konnte das nicht bezahlen und sein Freund Beuys sprang ein mit einer eigens aufgelegten Edition, die Staeck exklusiv verkaufte. Ich fand diese Aktion von Immendorff zum Kotzen und tobte, aber die gesamte Kunstszene hielt sich zurück. 

Wenn ich mal einen Aphorismus losliess, wurde das zwar amüsiert veröffentlicht, aber da sich alle betroffen fühlten, gab es nur Ärger.

„Der Künstler reißt das Maul weit auf, nicht um protestierend zu schreien, sondern um gefüttert zu werden.“ 

„Die Künstler haben ihre Tempel selbst zerstört und sind ins Bordell gezogen.“

Jörg Immendorff hat selbst gesagt: „Ich bin eine Kunstnutte.“ Bei Kunst ging es nicht um Können, sondern um Kennen und Verkaufen.


Alles wurde beliebig und immer harmloser. Auch wenn ein Kollege Kunst und Leben verbinden wollte und tagelang von allen beobachtet in eine Galerie zog und man ihn beim Essen, Pissen und Scheißen beobachten konnte, ging es dabei nur ums Auffallen. 

Ich beobachtete das jahrelang. Haben wir mit der Kunst das Leben verändert? Es gibt heute mehr Reiche und mehr Armut. Es gibt weniger Frieden und mehr Kriege. Es gibt mehr Möglichkeiten, sich zu informieren und sich zu vernetzen, aber die Netz-Nutzer tauschen Katzenfotos, Frühstücksbildchen, Likes und Emojis aus. Und wir Künstlerinnen und Künstler dekorieren die Welt. Einige stellen sogar engagierte Werke aus, aber keiner geht hin. 

„Kunst könnte ein Schleifstein sein. Sie ist aber ein Schwamm.“


Daran wollte ich nicht mehr teilnehmen. Um auf andere oder gar keine Gedanken mehr zu kommen nahm ich keine Drogen, sondern schluckte alles aus meinem Medizinschrank im Bad. Erfolglos, denn ich musste nur kotzen. Nun bin ich hier.“



                                                           3


Julian hatte ein Heft mitgebracht und las der am Leben Leidenden Verse von Theodor Storm vor:


Ein Punkt nur ist es, kaum ein Schmerz,

Nur ein Gefühl, empfunden eben;

Und dennoch spricht es stets darein,

Und dennoch stört es dich zu leben.


Wenn du es andern klagen willst,

So kannst du's nicht in Worte fassen.

Du sagst dir selber: »Es ist nichts!«

Und dennoch will es dich nicht lassen.


So seltsam fremd wird dir die Welt,

Und leis verläßt dich alles Hoffen,

Bis du es endlich, endlich weißt,

Daß dich des Todes Pfeil getroffen.



Das berühmte, Gedicht von Hermann Hesse kannte Aischa:


Seltsam, im Nebel zu wandern!

Einsam ist jeder Busch und Stein,

Kein Baum sieht den andern,

Jeder ist allein.


Voll von Freunden war mir die Welt,

Als noch mein Leben licht war;

Nun, da der Nebel fällt,

Ist keiner mehr sichtbar.


Wahrlich, keiner ist weise,

Der nicht das Dunkel kennt,

Das unentrinnbar und leise

Von allen ihn trennt.


Am nächsten Tag las Julian für sich und seine lebensmüde Freundin Andras Gryphius, den kaum jemand kennt:


Was frag ich nach der Welt? Sie wird in Flammen stehen.

Was acht´ ich reiche Pracht? Der Tod reisst alles hin.

Was hilft die Wissenschaft, dies ganze falsche Zeug?


Der Liebe Zauberwerk ist tolle Fantasie.

Die Wollust ist fürwahr nichts als ein schneller Traum.

Die Schönheit ist wie Schnee, dies Leben ist der Tod.


Dies Leben stinkt mich an. Drum wünsch ich mir den Tod.

Weil nichts, wie schön und stark, wie reich es sei, besteht.

Oft, eh man leben will, ist schon das Leben hin.



So machten sie es jeden Tag. Wenn Julian aus seinem Heft vorlas, wehten erste Herbstblätter und Blüten der späten Bäume auf das Papier. Sie sprachen über Erlebnisse, unter denen sie gelitten und die sie erfreut hatten. 

Beide waren sich einig, dass Glück nur ein Erleben von Momenten ist und dass die Gesellschaft verroht und mit den Worten Glück und Liebe inflationär umgeht. Wenn es aber nichts gibt, worüber so oft und so viel geschrieben, gedichtet, gesungen und gefilmt wurde und wird, scheinen die Sehnsucht groß und das reale Erleben klein zu sein.


Julian erzählte: 

„Ich bekam Besuch von einem Literaturprofessor der Heinrich-Heine-Uni in Düsseldorf. Wir tranken Kaffee in einem Thai-Imbiss. Der Professor erklärte, „Ich habe für mich entschieden, dass das Lesen mich im Alter nicht befriedigt. Ficken, ficken, ficken ist meine Agenda. Deshalb bin ich nach Thailand gekommen. Ich träume von einem Sterben mit zwei von diesen Girls im Arm. Goethes letzte Worte sollen „Mehr Licht!“ gewesen sein. Meine werden „Mehr Fleisch!“ sein.“

Durch meine Sonnenbrille sah mein Gegenüber nicht meine zornigen Augen. Ich stand auf und legte das Geld auf den Tisch. „Ich wünsche Ihnen ein gutes Gelingen mit einem Scheidenkrampf ihrer Gespielin und einen Herzinfarkt mit sogenanntem Vernichtungsschmerz.“


Was soll ich mit meiner Sexualromantik? Ich habe ja auch Verse von unbestreitbaren Größen im Kopf, die zu formulieren ich mich geschämt hätte:


Komm, Mädchen, lass dich stopfen!

Das ist für dich gesund.

Die Dutten werden größer,

der Bauch wird kugelrund.

(Bertolt Brecht)


Lange sucht ich ein Weib, ich suchte

da fand ich nur Dirnen.

Endlich erhascht ich dich mir, Dirnchen,

da fand ich ein Weib.

(Johann Wolfgang von Goethe)


Aischa nahm seine Hand und küsste die Finger.

„Ich ahne, dass du sehr zärtlich sein kannst….


Als ich an der Akademie in Düsseldorf studierte, hatte ein Professor der Fotografie sein Zimmer im Hauptflügel der zweiten Etage. Übereck konnte er die Fenster am Westflügel im Parterre sehen. Wenn er morgens seinen Fenstervorhang wegzog, hatte eine Studentin von unten zu ihm zu kommen. Dann wurde der Vorhang wieder zugezogen. Was heute diskutiert wird und zu einer me-too-Bewegung geführt hat, wurde und wird immer praktiziert und ist Resultat einer Männergesellschaft. Wie gerecht und ohne Menschenverachtung eine von Frauen dominierte Gesellschaft sein würde, weiss ich nicht. Ich kenne fast nur Frauen, die egoistisch sind.“


Julian lachte bitter. "Da kann ich auch ein mehrstrophiges Lied von singen. Frauen halten Gutmütigkeit und Vertrauen für Dummheit und betrügen den Mann. Es ist seltsam, aber in Gedichten und Schlagern wird immer nur die Sehnsucht verlassener Frauen besungen. Es gibt ein Chanson von Aznavour "Warum lässt du mich so allein" und ein trauriges Liebeslied von Georg Kreisler "Was machst du mit dem andern, sag, was sagst du ihm." Das sind Ausnahmen. Er fing an, etwas von Erich Käster zu singen, das er mal als Student vertont hatte


Das ist mein Zimmer und ist doch nicht meines.

Zwei Betten stehen Hand in Hand darin.

Zwei Betten sind es. Doch ich brauch nur eines.

Weil ich schon wieder mal alleine bin.

 

Der Koffer gähnt. Auch mir ist müd zumute.

Du fuhrst zu einem ziemlich andren Mann.

Ich kenn ihn gut. Ich wünsch dir alles Gute.

Und wünsche fast, du kämest niemals an.

 

Ich hätte dich nicht gehen lassen sollen!

(Nicht meinetwegen. Ich bin gern allein.)

Und doch: Wenn Frauen Fehler machen wollen,

dann soll man ihnen nicht im Wege sein.

 

Die Welt ist groß. Du wirst dich drin verlaufen.

Wenn du dich nur nicht allzu weit verirrst...

Ich aber werd mich heute nacht besaufen

und bisschen beten, dass du glücklich wirst.




Abends saßen beide auf dem Balkon von Julian oder Aischa und tranken Cocktails der untergehenden Sonne entgegen. Meist mixte Aischa große Gläser mit Orangensaft, weißem Rum, Triple Sec und einem Dash Angostura auf drei Eiswürfeln. Dann verabschiedeten sie sich und jeder kroch in die Kissen des eigenen Zimmers. Sie hatten auch Schlüssel zu dem jeweils anderen Apartment. So kam es, dass manchmal bei Aischa ein Zettel am Spiegel klebte mit einer Botschaft wie, „Ich fiel und du schenktest mir Flügel“ und bei Julian lag eine Lotusblüte auf dem Kopfkissen.


Eines morgens hatte Julian kein Heft in der Hand, sondern ein Buch. Es hatte sich etwas geändert. Was er Aischa vorlas, war freudig, liebevoll und manchmal sogar humorvoll.


Heute halte ich in den Händen

die zerstreuten Träume von gestern,

spüre mich und meine Sehnsüchte.

In meinem Innersten

weint es über ungelebte Freuden,

über Anfänge, deren Versprechen mich ängstigten.

Aber morgen,

morgen werden wir singen,

laut und klar,

voller Hoffnung und befreit von uns selbst.

Morgen

werden wir uns begegnen, als hätten wir uns schon

immer gekannt.

Und dann lachen wir uns an

und feiern das Leben. 



Batman und Robin 

die liegen im Bett.

Batman ist garstig 

und Robin ist nett.

Batman tatü

und Robin tata.

Raus aus den Federn,

der Morgen ist da!

(H.C. Artmann)


Überall ist Wunderland

überall ist Leben,

bei meiner Tante im Strumpfenband

und irgendwo daneben.

Wenn du einen Schneck behauchst

schrumpft er ins Gehäuse.

Wenn du ihn in Kognak tauchst

sieht er weiße Mäuse.

(Joachim Ringelnatz)


Am herzlichsten sah Julian seine Freundin lachen bei diesen 

Überlegungen von Ringelnatz:


Die Nacht war kalt und sternenklar

Da trieb im Meer bei Norderney

ein Suaheli-Schnurrbarthaar.

Die nächste Schiffsuhr wies auf drei.


Mir scheint da mancherlei nicht klar:

Es fragt sich doch, wer Logik hat,

was macht ein Suahelihaar

denn nachts um drei im Kattegat?


Bei allen zukünftigen Gesprächen, wurde lachend „Suaheli?“ gefragt, wenn es um Logik ging.


                                                         4


Das Selbstverständliche, Unglaubliche geschah. Abends nach Sonnenuntergang lagen sie im Zimmer von Julian nebeneinander im Bett und streichelten sich. Julian fragte, „Warum haben asiatische Frauen bis ins Alter diese herrlich glatte Haut?“ , und er küsste ihre kleinen, mädchenhaften Brüste. In dieser Nacht schien der Mond größer und heller am Himmel zu schweben.


Julian legte in Aischas Zimmer ein eigenes Gedicht:


Meine Liebe, 

ich möchte der Vogel sein, der dich morgens mit seinem Gesang weckt. 

Ich möchte die Sonne sein, die dich am Tag wärmt 

und der Mond, der dich nachts still beschützt. 

Ich möchte der Baum sein, der dir Schatten spendet. 

Ich möchte der Tee sein, der dich stärkt und erfrischt 

und die Schale Reis, die immer deinen Hunger stillt. 

Ich möchte die Blume sein, die dich mit ihrem Duft berauscht. 

Ich möchte der Clown sein,der dich mit seinen Späßen erheitert 

und das hilflose Kind, das dich zu Tränen rührt. 

Ich möchte der Hund sein, der dich treu begleitet. 

Ich möchte die Kutsche sein, die dich leicht schaukelnd überall hin trägt. 

Ich möchte der Wind sein, der sanft deinen Körper kühlt. 

Ic möchte die Welle des Meeres sein, die dich überall berührt. 



Sie fuhren nach Bangkok und besuchten einen Filmabend im Goethe-Institut. Bei einer anderen Gelegenheit hörten sie das Deutsche Symphonieorchester Berlin unter der Leitung von Robin Ticciati. Sie besuchten Ausstellungen und Künstlerdörfer und Julian bat Aischa an einem Freitag nach dem Essen zu einem Gespräch.


Er setzte sich auf ihrem Balkon ihr gegenüber an den kleinen Tisch und nahm ihre Hände: 

„Ich bin wieder optimistisch und voll Hoffnung. Ich passe zu dir und ich glaube, auch dich ermuntert zu haben. Lass uns abhauen. Wir haben den Grundbetrag bezahlt und den können sie behalten. Wir packen noch heute unsere Koffer und fahren mit meinem größeren Fortuner morgen in aller Frühe weg. Deinen Mini lassen wir später abholen. 

Ich habe mein Haus mit Inventar ja noch nicht verkaufen können. In der ersten Etage mache ich das große, helle Zimmer für Meditation und Fitnessgeräten frei für dein Atelier. Willst du?“


Aischa sah ihn lange an, umarmte ihn und gab ihm einen Kuss auf die Wange. 

„Ja, lass uns packen. Ich bin in einer Stunde fertig. Wir essen abends eine Kleinigkeit und trinken dann bei dir einen Cocktail. Sag du unten Bescheid, dass wir für ein paar Tage verreisen und sie uns schon um 7 Uhr das Frühstück bringen sollen.“

Das Packen der Koffer und Aufräumen ging schnell. Julian zog sich seinen seidenen Morgenmantel über und sagte an der Rezeption, was zu tun war. 

„Schön für Sie, wie lange bleiben Sie weg?“

„Etwa vier bis fünf Tage, Maximum eine Woche.“

„Bitte rufen Sie vorher an, damit frische Blumen auf ihren Zimmern stehen.“
„Vielen Dank, sehr lieb von Ihnen.“


Aischa telefonierte mit dem Direktor. „Er ist soweit.“

„Okay, ich lass alles fertig machen und auf dein Zimmer bringen. Bist du in der nächsten Stunde allein?“

„Ja, ich bin allein.“

Eine Mitarbeiterin der Krankenstation brachte sechs Valium 10 und eine Spritze. Aischa bat sie, dem Direktor auszurichten, das er bis morgen früh die Abrechnung fertig machen soll.

Sie löste in verdünntem Orangensaft die zerkleinerten Tabletten auf. Die Spritze legte sie in das Mahagoni-Schränkchen. Lange saß sie dort und betrachtete ihr Bild in dem ovalen Spiegel über dem Schränkchen.


Nach dem Dinner entspannten sie sich mit Ihren Cocktails auf seinem Balkon und betrachteten die Abendsonne und das Meer bei ruhiger Musik von Manos Hadjidakis „15 Vespers“. 

Als unter violettem Himmel die blutrote Sonne im indischen Ozean versank, war  Julian eingeschlafen. 


Am nächsten Morgen sprach Aischa kurz mit dem Direktor, steckte einige Papiere ein und ein Page trug ihren Koffer zum roten Mini. Der Wagen rollte langsam durch den Park zur Ausfahrt. Vom Tempel herunter wehten die Gesänge der Mönche.


© Manfred Spies 2021








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