Donnerstag, 18. Februar 2021

Last Sunset

Last Sunset, Prolog

Da sitzt er nun, alt und auf Hilfe angewiesen. Glücklich wollte er sterben. Und nun ist er lebendig aber tot-unglücklich.


Die Dokumente und Papiere sind geordnet, die Bilder sind gemalt, der Band mit den Kurzgeschichten „Sterne und Steine“ war ein Erfolg und das Buch über seine Lebenswege mit den Kapiteln „Krabbelm. Gehen, Rennen, Stolpern, Kriechen“ ist fertig geschrieben.


Seiber tropft ihm aus dem Mundwinkel, der Arm und das Bein sind gelähmt, im Internet las er angeekelt von neu entwickelten Monatswindeln. In Europa werden tausendfach Roboter in der Altenpflege eingesetzt, in Thailand macht das die Familie mit der ihr eigenen Art der Zuwendung. Als die Schwägerin beim Füttern zu ihm sagte, „Ein Löffelchen für die Mama, ein Löffelchen für den Papa…“ schlug er ihr das Besteck aus der Hand.


Er ist bei klarem Verstand, seine Sinne funktionieren hervorragend. Das empfinden andere als Belästigung. Ein logisch denkendes Baby, das unbequeme Wünsche äußert, passt nicht ins Pflegeschema. Und warum sprechen die Pflegenden immer so laut mit den Kranken? „Wie geht es uns denn heute?“ wird ins Zimmer gerufen, als wenn der Kranke im Haus gegenüber liegen würde. Wenn der alte Mann antwortet, „Mir geht es gut, wie es dir geht, weiss ich nicht“, spürt er beim Waschen die Rache. 


Er hatte seit vielen Jahren Pläne, er ist sein ganzes Leben selbstbestimmt gegangen und gestolpert. So war es bis zuletzt geplant. Jetzt wird er als Behinderter gehindert.


Vor 40 Jahren saß er auf einem Felsen am Meer und beobachtete den Sonnenuntergang. Es war einer seiner Momente absoluten Glücks. Der Himmel, die Erde, die Natur und er waren eins. Er sah den Sonnenuntergang nicht, er fühlte ihn, er erlebte ihn. 

Damals schrieb er seine Traum-Geschichte über einen Sunset, die er immer wieder veränderte, seinen aktuellen Lebensumständen anpasste.


Warum ließ man ihn jetzt nicht in Ruhe und würdevoll sterben? Warum musste und durfte er sein Leben immer selbst bestimmen, aber seinen Tod nicht?

Warum ließ man ihn am Ende unglücklich und - wie er es empfand - qualvoll „ver-enden“?


Er könnte, wenn man ihn mit seinem elektrischen Rollstuhl durch die Stadt schiebt, auf den Gashebel drücken und unter einen LKW rasen. Aber das würde weh tun, und das war nicht seine Idee.

 

Er liest seine Geschichte von vor 40 Jahren nicht mehr. Das Lesen machte ihn jetzt nur traurig, er ist hoffnungslos und lässt sich weiter füttern.


© Manfred Spies


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Last Sunset, die Geschichte


Er hieß Johannes, aber alle kannten ihn nur als John oder Johnny.

Seine deutschen Großeltern waren vor mehr als 50 Jahren nach Thailand gekommen und geblieben. Der Vater hatte eine Thailänderin geheiratet, John war Bürger dieses Landes, in dem es angeblich so viel zu lächeln gibt. 


Als Musiker gründete er eine Band mit dem Namen „5.12“. Die Zahlen sollten an einen königlichen Geburtstag erinnern. Es war schon verwunderlich, dass eine Thai-Band politische und poetische Texte in englischer Sprache sang. Aber dadurch hatte 5.12 internationalen Erfolg. 

Nein, gesungen mit Thai- Samtstimmchen wurde nicht. Johnny brüllte mit einer Stimme, die eine Mischung aus Cocker und Springsteen war und auf das Publikum wie das Zünden von Raketen in ihren Turnschuhen wirkte. Aber 5.12 wirkte auch in den Köpfen.

„Ich bin ein Mensch“ war der Song, der dem Sänger und einigen Bandmitgliedern einen Gastaufenthalt im Thai-Knast bescherte. Der von ihnen durchaus verehrte alte König hatte in einer Rede zu seinem Geburtstag erklärt, dass „ich ein Mensch bin und deshalb auch Fehler machen kann.“ Das nahm die Band zum Anlass, über das Menschsein aller Thailänder und aller Menschen zu dichten und zu singen. Freiheit und Toleranz auch für andere Ansichten waren das Anliegen. 


Natürlich bewertet eine Militärregierung, die nur Befehle, Gehorsam und Strammstehen kennt, solche Ansichten als staatsgefährdend. Die Art der Musik, die provozierenden Texte, die violette Kleidung der Bandmitglieder, der Bezug auf das Königszitat - alles wurde kriminalisiert. „Ich bin ein Mensch“ wurde verboten, die Künstler eingesperrt. 

Es gab Proteste in Thailand, es gab einen Aufschrei internationaler Medien und es gab Absagen internationaler Musiker und Künstler für Konzerte, Festivals und Ausstellungen.

Nach ihrer Freilassung erklärte John auf einer Pressekonferenz mit allen Band-Mitgliedern, dass sich ohne einen grundlegenden Wechsel, eine Revolution, in dem seit Jahrzehnten verkrusteten Land nichts ändern werde. „Der höchste Wert in diesem Land, die persönliche Freiheit als Grundlage aller anderen Werte, ist uns unbekannt geworden.“ Nur durch „Change as chance“ könne dieses Land und sein Volk wieder zu sich selbst finden. John formulierte keine neuen Ideen, er erinnerte nur an traditionelle Werte. „Wir müssen auf Buddha hören, die Konvention der Menschenrechte lesen und Wissen vor Glauben setzen.“


Das war das Ende. Die Regierung verbot jegliche Betätigung der Band, die Benutzung der Zahlen 5 und 12 ausserhalb von Bankgeschäften, kommerziellen Tätigkeiten und dem Wetterbericht, Versammlungen am 5. oder 12. eines Monats, Versammlungen von mehr als 5 Personen, die Farbe Violet und englischsprachige Musik und Medien. Ein Bangkok-Konzert der deutschen Band „Scorpions“ mit dem Welthit „Wind of Change“ wurde abgesagt.


Während seines langjährigen Gefängnisaufenthalts lernte John den Gründer der „Engagierten Buddhisten“ Sulak Sivaraksa kennen. Beide schrieben ein Buch mit dem Titel „Mörder, Mönche, Menschen“ und schmuggelten die Manuskripte nach draußen. Der Welterfolg des Buches - natürlich in Thailand offiziell verboten - machte es ihnen finanziell möglich, nach ihrer Freilassung Hilfsorganisationen, verfolgte Musiker, Künstler und Autoren usw. zu unterstützen.


Er hatte berühmte Menschen getroffen, die er bewunderte. Sie wurden Freunde. John erkannte: Wir respektieren uns. Nicht weil wir bekannt sind, sondern wegen unser sehr unterschiedlicher Ideen.  

Er hatte überall Menschen getroffen, die ihn bewunderten. Sie wurden Freunde. John erkannte: Sie bewunderten nicht ihn sondern seine Ideen.



John wurde alt und gebrechlich. Gelenkschmerzen und Muskelschwund verursachten Stürze, ein Schlaganfall hatte teilweise Lähmungen zur Folge. Er sah sich irgendwann als Pflegebedürftiger, dem das Essen in den Mund und eine Bettpfanne unter den Hintern geschoben wird. Er hatte angeekelt von Wochenwindeln gelesen. Er fantasierte sich in eine Horrorwelt, in der sein Körper von anderen aufgefüllt und von anderen entleert wird. 


Johnny packte für einige Tage ein paar Sachen, nahm seinen batteriebetriebenen CD-Player und die Kopfhörer und fuhr in einen stillen Ort an der Andamanensee. Er kaufte ein kleines Schlauchboot mit einem 7PS Elektromotor. Die Thai wussten: Wenn John abends mit seiner Musik in die Dämmerung schipperte, sah er am nächsten Morgen beim Frühstück glücklich aus.


Aus seinem Heimatort im Isaan hatte sich John einen Unkrautvernichter und die gleiche Menge Puderzucker besorgt und damit eine 2kg-Bombe mit Zeitzünder gebastelt. An einem wunderbaren Spätnachmittag packte John eine Flasche Roten, Käse, Weintrauben und Baguette neben den Bootssitz, ganz vorne wurde die Bombe verstaut, in der Bootsmitte zwei Sandsäcke mit Schnüren. In einem kleinen Beutel hatte John ein Fläschchen mit 40 aufgelösten Valium10-Tabletten, einer Insulinampulle und einer Einmalspritze.


Er schob guter Dinge das Boot ins Wasser, stieg ein, paddelte ein wenig und lies den leisen Motor an. John lehnte sich zurück, steckte sich die Kopfhörer in die Ohren und machte den Roten auf. Welch ein Genuss, der Nachmittagssonne entgegen zu steuern, die wie eine dicke Orange am Himmel hing. Der alte Mann lächelte. Sunset. So hatte er sich das immer vorgestellt. Ganz allein der Sonne entgegen, danach würde es keine Spuren von ihm geben.


Der Strand war schon weit weg, die See spiegelglatt. Käse, Trauben und Brot schmeckten, dazu der Wein - einfach köstlich! 

Die Sonne war groß und glühend abgesackt und stand wie in einem Gemälde aus warmer Farbenpracht, über ihr wölbte sich die Unendlichkeit in einem violetten Blau.

 

John band sich jetzt die Sandsäcke an die Füße und trank das Fläschchen mit der milchigen Flüssigkeit. Danach etwas Käse und einen Schluck Wein. Zuletzt kramte er die Ampulle und die Spritze aus dem Beutel und gab sich die Überdosis in den Beinmuskel. Er hatte „A Day in the Life“ von Sgt. Pepper's Lonely Hearts Club Band gehört, jetzt passte gut Pink Floyd mit „Wish you were here.“ Er lächelte.


Als das letzte Stückchen der roten Scheibe am Horizont ins Schwarz getaucht war, schlief John und atmete tief. Sein Kopf ruhte seitlich etwas abgeknickt gegen die Paddel gelehnt, die fast leere Weinflasche lag in seinem Schoß. Er machte einen beneidenswert entspannten Eindruck. Der Motor surrte immer noch leise und die Sterne funkelten. 


Sunset war vorüber und in zwei Stunden würde in dieser Nacht eine kleine Bootsfahrt mit einem dumpfen Knall zu Ende sein. Das würde Johnny alles nicht mehr hören.


© Manfred Spies


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