Samstag, 15. Juni 2013

Dieter Forte zum Geburtstag

14.6.2013
Lieber Dieter,

ich wünsche dir zu deinem Geburtstag vor allem die Gesundheit, um die du kämpfst, seit wir uns vor 55 Jahren kennen gelernt haben. Es ist sehr schade, dass wir nun so weit von einander entfernt sind und uns nicht mal so eben nach einem Flug oder einer Zugfahrt sehen können. Dabei habe ich den Eindruck, dass mir der Freund umso mehr fehlt, je älter ich werde.

Marianne und dir wünschen Luck und ich das Beste, alles Wichtige und Schöne, was ihr euch selbst wünscht in dieser knapper werdenden Zeit.

Ich habe diesen Glückwunsch hier öffentlich gemacht, weil ich mit einer Verbeugung vor dir auch andere Leser - besonders aus unserer Heimatstadt Düsseldorf - auf einen Artikel über dich hinweisen möchte. Die Achtung und die Begeisterung, die aus den Worten des SPIEGEL-Journalichen spricht, hat mir sehr gefallen...

Als die D-Mark jung war

Von Hage, Volker
In seinem neuen Roman "Auf der anderen Seite der Welt" erzählt der Schriftsteller Dieter Forte vom Leben im erwachenden Wohlstand, der das nachbebende Weltkriegsgrauen überdeckt.
Fast amüsant beginnt diese Reise auf eine namenlose Insel in der Nordsee, zu einer Zeit (inmitten der fünfziger Jahre, so ist anzunehmen), als die Lokomotiven noch weiße Dampfwolken ausstoßen, "die sich in der Luft verzettelten", als noch Pferde auf den Weiden mit dem Zug um die Wette laufen. Doch der Ausflug nimmt schon bald - auf der anschließenden Fahrt mit einem alten Schienenbus bis unmittelbar ans Meer und einer abenteuer-lichen Überfahrt - groteske Züge an und kommt in der Abgeschiedenheit eines Lungensanatoriums vorerst zu einem beängstigenden, stets dem Tode nahen Stillstand.

"Auf der anderen Seite der Welt", so heißt der neue Roman von Dieter Forte*. Und das heißt auch: jenseits der Zeit, weit weg von allem, was die Nachrichten der Aufbaujahre verkünden. Der moribunde Held versäumt schon bald, seine Armbanduhr aufzuziehen oder nachts die Ziffern mit den Leuchtpunkten zu betrachten, dann legt er sie ganz weg und hat sie irgendwann einfach vergessen.

Es gibt kein Radio, kein Telefon; allein ein Mitpatient, der im Leben draußen als Börsianer gearbeitet hat, darf beim Chefarzt gelegentlich telefonieren: für seine guten Tipps und damit er den Kontakt zur Börse nicht ganz verliert. Doch sonst fehlt dieser Stätte alles Mondäne, jede "Zauberberg"-Atmosphäre: Es weht eine andere, rauere Luft.
War die Lungenheilstätte bei Thomas Mann im "Zauberberg"-Roman (1924) noch ein - hoch in den Bergen gelegener - Ort der Gesellschaft und großen Auftritte, eine Plattform für Liebesdramen und hochgeistige Gespräche kurz vor Ausbruch des ersten jener beiden Kriege, die man später Weltkriege nannte, so gibt es hier, nach dem zweiten dieser Kriege, nur noch ein Verdämmern, das pure Pandämonium, Geisterwelt; entsprechend herab-gestimmt auch der Erzählton, der sich allenfalls - darin ganz Thomas Mann nah - bei der Beschwörung des Meeres und seiner bis in den Schlaf rauschenden Brandung eine begeisterte Höhenlage erlaubt.

Gut möglich, dass der Autor dieses Romans, der in Düsseldorf geborene, in Basel lebende Dieter Forte, 69, jetzt doch noch in den Genuss jener Aufmerksamkeit kommt, die ihm schon lange gebührt. Die Vorleserin der Nation, Elke Heidenreich, hat sein Buch in der neuesten Ausgabe ihrer ZDF-Sendung "Lesen!" empfohlen - allen Unkenrufen zum Trotz, sie lobe nur seichte Ware. Wenn das anspruchsvolle Werk daraufhin nicht gleich auf die Bestsellerliste geraten ist, so vielleicht nur deshalb, weil die Forte-Verehrerin ihren Zuschauern zum Einlesen zunächst die früheren Romane des Autors ans Herz legte.

Pech für das neue Buch, publikumspädagogisch aber korrekt: Vor dem Hintergrund der in den neunziger Jahren entstandenen Romantrilogie "Das Haus auf meinen Schultern" (erstmals 1999 in einem Band zusammen-geführt) fällt der Einstieg in die Welt des erzählerisch zerklüfteten Romans "Auf der anderen Seite der Welt" leichter. Fortes weit ausholende und mittlerweile häufig gelobte Familiensaga ist ein anschauliches, kraftvolles episches Werk, das Deutschland aus Sicht von Einwanderern zeigt. Und der neue Roman lässt sich bei aller Eigenständigkeit gut und gern als Fortschreibung der Trilogie verstehen.

Vertraut ist Forte-Lesern vor allem der namenlose junge Mann, der eben noch, im dritten Band des Romanzyklus, ein kleiner Junge war und nun, zu Beginn des neuen Romans, etwa 18, 19 Jahre alt ist und seine Heimatstadt für lange - er fürchtet gar: auf ewig - verlassen muss.
In dieser Stadt, erkennbar Düsseldorf, haben sich in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts zwei von Geblüt recht unterschiedliche Einwanderer-familien verbunden, die Familien Fontana aus Italien und Lukacz aus Polen - deren Sprössling ebendieser Romanheld ist, der im mittleren Band der Trilogie zur Welt kommt.
Und in dieser Stadt hat er als Kind im Zweiten Weltkrieg in den Bomben-nächten gezittert und um Atem gerungen, ein Trauma, das ihn - wie auch den Autor Forte - nie mehr losgelassen hat (auch im neuen Roman sind sie unterschwellig präsent, die "vielen Tage und Nächte, die einmal sein Leben waren im explodierenden Todesstrudel der Bomben, im erstickenden Tod des versagenden Atems").
Forte gehört einer Autorengeneration an, die bis heute auf sonderbare Weise im Hintergrund geblieben, zum Teil fast schon wieder abgetreten ist: der Generation der in den dreißiger Jahren Geborenen, die den Krieg als Kinder erlebten. Dagegen repräsentieren die Jahrgänge von 1926 bis
1929, die später als Flakhelfer oder gar jugendliche Soldaten des letzten Aufgebots herhalten mussten, immer noch recht munter die deutsche Literatur (ob nun Günter Grass, 77, Walter Kempowski, 75, Siegfried Lenz, 78, Peter Rühmkorf, 75, Martin Walser, 77, oder auch Christa Wolf, 75).
Manche der eigentlichen Kriegskinder aber sind längst nicht mehr dabei, sie leben schlichtweg nicht mehr. Das mag recht unterschiedliche Ursachen haben, Krankheit, Unfall oder Selbstmord - es bleibt doch eine fast schon gespenstische Galerie der früh Gestorbenen: von Thomas Bernhard (1931 - 1989), Nicolas Born (1937 - 1979), Rolf Dieter Brinkmann (1940 - 1975) über Hubert Fichte (1935 - 1986), Hans J. Fröhlich (1932 - 1986) und Uwe Johnson (1934 - 1984) bis hin zu Bernward Vesper (1938 - 1971).
Fast alle haben sie den Krieg, vor allem den Luftkrieg als verheerende Erschütterung ihrer Kindheit erlebt und darüber auch - bisweilen an versteckter Stelle - geschrieben, wie der Österreicher Bernhard, der die Bombardierung von Salzburg ein "mich für mein ganzes Leben verletzendes Geschehen" nannte, so im ersten Band seiner Autobiografie, dem er den Titel "Die Ursache" (1975) gab.

Der Untertitel "Eine Andeutung" mochte als Hinweis auf die von Bernhard vermutete seelische Ursache der späteren Lungenkrankheit gedacht sein, deren Folgen er in dem Band "Der Atem" (1978) beklemmend geschildert hat: "Eine Entscheidung" (so der Untertitel dieses Bandes) zum Leben, gegen den elenden Tod im Krankenhaus - hin zum Schreiben. "Hier sind Bruchstücke mitgeteilt", heißt es in dem Buch, "aus welchen sich, wenn der Leser gewillt ist, ohne weiteres ein Ganzes zusammensetzen lässt. Nicht mehr. Bruchstücke meiner Kindheit und Jugend."
Diese Bernhard-Worte könnten bestens das Motto für Fortes Roman "Auf der anderen Seite der Welt" abgeben. Auch Forte hat den Luftkrieg und die Atemlosigkeit am eigenen Leib erfahren müssen, hat in jungen Jahren schier endlose Zeit im Sanatorium verbracht - die Kurklinik Utersum auf der Nordseeinsel Föhr ist reales Vorbild für das im Roman geschilderte windumtoste, von Nebeln eingehüllte Haus -, und er hat ebenso aus der lebensbedrohlichen Erkrankung zurück ins Leben und den Weg zur Literatur gefunden.
Sein Roman aber hat über die streng autobiografische Dimension hinaus noch eine andere Perspektive: Er ist zugleich ein gewaltiges Panorama und figurenreiches Gemälde der deutschen Nachkriegsepoche, wie es so noch nicht zu lesen war.

"Das Meer lag in der tiefen Nacht in seinem schweren Atem", so setzt der Roman ein, "in einer Stille wie vor der Geburt, während das herausgestoßene, abbrechende Todesatmen eines Menschen den Tag erwartete ..." Und dieser Satz wird wie eine Beschwörungsformel wiederholt, leitet und stimmt jedes neue Kapitel ein, gewissermaßen als literarischer Kammerton.
Überhaupt verliert sich die Chronologie, jede Form von Bewegung rasch in diesem Roman, denn Handlung ist in dieser Welt des Sterbens ("Da wartet man nun auf den Tod") nicht vorgesehen. Die Erinnerung ist ein ewiger Kreislauf von Gedanken und Bildern, und der junge Mann erlebt nach den mörderischen Bombennächten nun zum zweiten Mal, wie Menschen, die eben noch im Bett nebenan aus ihrem Leben erzählen, am nächsten Morgen nicht mehr da sind.

Der namenlose Held ist der Chronist, er hört die Stimmen der anderen. Von ihm ist nur in der dritten Person die Rede, mit einer Ausnahme, wo das spätere Erzähler-Ich sich kurz einschaltet: "Ich sehe die Person, die ich bin, die ihr Leben erkennt in den ungeschriebenen Geschichten der Toten ..."
Der junge Mann aber wird überleben und am Ende auf der Rückseite einer Fieberkurve das eigene Erzählen, sein Schreiben beginnen - und in die ihm unverständliche Wirtschaftswunderwelt zurückkehren: "mit dem erschrockenen Blick des Fremden, des Nichtdazugehörenden".

Das ist die Gegenwelt: die frühe Bundesrepublik der Aufbaujahre, denen Forte ein treffendes, heute schon wieder wehmütig stimmendes Motto gibt: "Die Deutsche Mark ist die Freiheitsstatue der Deutschen." Was auch Autoren wie Heinrich Böll, Gerd Gaiser und Wolfgang Koeppen schon aus unmittelbarer Zeitgenossenschaft zu schildern versucht haben, wird hier aus einer größeren Distanz neu und anders erzählt.

Zugleich aber atmet dieser atemlose Roman selbst noch den Geist der Nachkriegszeit, der Sisyphos-Welt von Camus und der Aufbruchstimmung in den Trümmern Europas: "Unter Ruinen die exterritorialen Inseln der versteckten Jazzkeller, ... enge Räume hinter verbrannten Treppen und verrosteten Luftschutztüren ... Musiker, die auf den neuen Tönen aus dem unvorstellbaren Land USA wandelten."
Das sind die frühen Jahre, getragen von der Hoffnung auf neue Kunst, neue Farben, neue Töne, kurz: neue Möglichkeiten. Später kommt eine andere Realität zum Vorschein und zum Tragen: "Es war die endgültige und unaufhaltsame Beschleunigung der Welt aus dem Verharren heraus in die Bewegung des Geldes."

Forte zeigt seinen Helden nicht nur als Außenseiter, sondern ebenso als intimen Zeugen des politischen und wirtschaftlichen Geschehens - mit pikareskem Spaß. Der junge Mann nämlich arbeitet, Jahre vor Ausbruch seiner Krankheit, als Empfangsboy mit Uniform bei einem Düsseldorfer Unternehmen. Er steht neben den Industriebossen, erlebt Bundespräsident Theodor Heuss in einem stillen Moment, lauscht einer Rede von Wirtschaftsminister Ludwig Erhard, in der die Wiedergeburt eines Waschmittels "in der Qualität der Vorkriegszeit" gefeiert wird.
Von der Marke Persil ist die Rede, und was wie groteske Überzeichnung wirkt, ist pure Realität, vom Autor selbst erlebt und dokumentiert: Im Alter von 15 Jahren arbeitete Forte eine Zeit lang bei der Firma Henkel in dem von Bomben nahezu verschonten Düsseldorfer Werk, das mit seiner pompösen Empfangshalle Drehort mancher Nachkriegsfilme war (so wird aus dem Empfangs- sogar bisweilen ein Hotelboy mit kleinen Auftritten) und Ende der vierziger Jahre sogar provisorisch den Landtag von Nordrhein-Westfalen beherbergte.

Kuriose Geschichten aus einer fernen Zeit des Umbruchs, die heute, in Zeiten wachsender Gefährdung des lange wie selbstverständlich genommenen Wohlstands und Wachstums, so fremd gar nicht mehr erscheinen wollen. Forte hat ein Auge für Verlierer, die als Überlebende, als Sonderlinge in der "gesetzlosen Nachkriegszeit" noch gut durchgekommen sind, später aber an den Rand gedrängt werden.

Sein Romankosmos zerfällt schon bald in lauter Splitter und Fragmente, führt liebevoll Einzelschicksale vor, zitiert Schicksale wie das des einstigen Schwarzmarkthändlers und KZ-Überlebenden: "Er leugnete alles, stritt alles ab, sagte nebbich, KZs hat es keine gegeben, das müsste ich doch wissen, dann wäre ich als Kind ja da drin gewesen." Aber nun lebt er hinter verdunkelten Fenstern, mag nicht mehr hinaussehen: "Ich sehe in allen Straßen die Toten herumlaufen, die meinen Namen rufen, denn sie kennen mich, und sie wundern sich, dass ich noch lebe, und sie wollen wissen, wie ich das gemacht habe, und ich weiß es doch selber nicht."

Wie Thomas Bernhard besteht auch Forte in seinem Roman darauf, dass nur noch Bruchstücke möglich sind und keine "ausgeformte, sinnvolle Erzählung", weil es in der geschilderten Welt keine Idee mehr gibt, "die große Geschichten ermöglichte und zusammenhielt". Am Ende bleibt nur noch ein kurzatmiger Erzähler, der die Bruchstücke sammelte, bleibt "eine Stimme, die sprach, es war unwichtig, wer erzählte, es kam darauf an, eine Stimme zu hören, die eine Stimme, die die Erinnerung war".
Diese Stimme, Fortes Stimme gewinnt hier, auf der anderen Seite der Welt, beeindruckendes Volumen, betörenden Klang. VOLKER HAGE
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*Die Kritik aus dem SPIEGEL vom Oktober 2004 ist nicht ganz neu, aber nicht angestaubt. Inzwischen hat Dieter Forte am 7.März 2013 ein neues Buch veröffentlicht.

http://www.fischerverlage.de/buch/das_labyrinth_der_welt/9783100221186

http://www.amazon.de/Das-Labyrinth-Welt-Ein-Buch/dp/3100221184


Manfred Spies

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