Samstag, 24. Dezember 2022

letzte Kerzen

 Die letzte Kerze


Weihnachten in Kindertagen war immer etwas für alle Sinne. Schon vorher duftete es beim Backen der Plätzchen, beim Braten und Kochen in der Küche und die schon Tage vor dem Schmücken hergerichtete Tanne und die abends gekokelten Zweige verströmten ihr unvergleichliches Aroma. Üppig geschmückt wurde der Baum nur silbern mit Lametta, Ketten, großen und kleinen Kugeln, Engelshaar, einer wunderbaren Spitze und brennenden Kerzen. Andächtig und staunend betrachteten wir am Heiligabend im abgedunkelten Raum diese geheimnisvolle Erscheinung in einem uralten sich drehenden Ständer, der wie mit Glöckchen klingend drei Lieder abspielte: Stille Nacht, Oh Tannenbaum und Großer Gott wir loben dich.

Nicht einmal annähernd habe ich das in den folgenden Jahrzehnten wiederholt. Konsumkritik und der Gedanke, mit den geliebten Menschen zwar nicht jeden Tag zu einem „Fest der Liebe“, aber zumindest zu Momenten der Aufmerksamkeit und Zuneigung zu machen, bestimmten mein Verhalten.

Wir wurden alt. Meine Eltern hatten das Reihenhaus mit Garten verkauft und lebten sehr zufrieden im Rosenhof, einer sehr guten Senioren-Anlage. Ich musste meinen Beruf wechseln und hatte mit großem Erfolg ein Szene-Restaurant eröffnet. Meine Elter und einige meiner guten Freunde hatten Gutscheine für lebenslang freies Essen und Trinken. Aber das wurde oft durch sehr hohes Trinkgeld für die Bedienung ausgeglichen.

Vater und Mutter kamen mit S-Bahn und Straßenbahn, wenn ich sie nicht abholen konnte. Nach dem 80 Geburtstag meines Vaters betrat meine Mutter immer früher den Raum. „Ach, der ist so langsam, das dauert mir zu lange.“ Diese Rücksichtslosigkeit war nicht normal. Später begriff ich, dass es der langsame Beginn ihrer Alzheimer-Entwicklung war. Ich ging meinem Vater auf der etwa 200 Meter langen Tannenstraße entgegen.

Als der Vater immer wackeliger wurde, lud ich sie zu einem nostalgischen Weihnachtsessen ein. Ich hatte einen großen Baum in den alten Ständer mit den Musikwalzen gestellt und wie in Kindertagen geschmückt. Ich sah, wie mein Vater ganz still und gerührt wurde. Das selbst zubereitete Mahl mir mehreren Gängen schmeckte den Eltern so gut, dass meine Mutter den Vater beim Dessert-Nachschlag ermahnte. Er protestierte „So etwas bekomme ich doch nicht oft“.

Zwei Wochen später kam er ins Krankenhaus. Seinen Diabetes und seine dunklen Zehen am linken Fuß hatte der Rosenhof-Arzt nicht erkannt. Der Hospital-Arzt empfahl keine Amputation. „Das geht jetzt schnell weiter. Warum soll ihr Vater in seinen letzten Tagen leiden. Das Wasser steigt hoch bis zur Lunge. Nehmen Sie Ihren Vater nach Hause.“

Ich fuhr täglich zum Rosenhof. Nach einer Woche bat mich mein Vater, „Junge, bring mich nach Hause. Ich will nicht im Krankenhaus sterben.“ Ich zeigte ihm Bilder an der Wand. „Was siehst du da? Du und die Mutti am Bodensee. Du und dein Enkelkind Sabine. Ein Edelweiss von deinem Alpenurlaub vor 60 Jahren . Glaubst du, das können wir im Krankenhaus aufhängen? Du bist zuhause.“ Da schaute mich mein Vater glücklich an und drückte mit
erstaunlicher Kraft meine Hand, lehnte sich zurück und schloss die Augen. Er öffnete sie nicht mehr und hörte in meinem Beisein zwei Tage später auf zu atmen. Wir zündeten eine letzte Kerze an.

                                     


So möchte ich auch sterben. Ich weiss, dass das hier in Thailand möglich ist. Ich werde nicht abgeschoben, ich bleibe in der Familie. Wahrscheinlich wird nicht nur eine Kerze angezündet.


Manfred Spies, 25.12.2022

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